Der 10-Downing-Street-Schocker

(09.06.17) Mrs. May ohne Mehrheit. Wie reagiert die britische Premierministerin? Für Freitag, 10 Uhr Ortszeit (11 Uhr deutscher Zeit) ist eine Erklärung der Regierungschefin angesagt. Die ganze Welt ist per Livestream zugeschaltet. Es wird 11 Uhr, es wird 12 Uhr, es wird 13 Uhr… nichts passiert! Nichts? Von wegen. Für alle, die nicht live an den Endgeräten dabei sein konnten, hier noch einmal als Screenshots (Quelle: Spiegel online) die atemberaubenden Höhepunkte einer Liveberichterstattung, die das Zeug hat, Mediengeschichte zu schreiben:

 

London, 10 Downing Street , 10.25 Uhr Ortzeit:

Chief Security Bobby (CSB) James P. Samdingdon erhält einen eiligen Funkspruch aus dem Buckingham-Palast. Die Queen lässt fragen, wie viel Stück Zucker Mrs. May zum Tee zu nehmen pflegt.

 

 

London, 10 Downing Street, 10.26 Uhr Ortzeit:

CSB Samdingdon kann die Frage der Queen nicht selbst beantworten. Er geht nach links aus dem Livestream, um den Vorgang an seinen Vorgesetzen, Chief Inspector Bobby (CIB) Barney Duggs, weiterzugeben. Sekunden später wird die Sonderkommission „Maysugar“ (Maizucker) gebildet.

 

London, 10 Downing-Street, 10.34 Uhr Ortzeit:

Spezialprofiler klären die Zuckerfrage durch einen Anruf beim Vizeleibkoch der Premierministerin: Mrs. May nimmt gern ein gestrichenes Löffelchen weißen Kandis zum Tee. CIB Duggs eilt mit der verschlüsselten Information zum Datenübertragungswagen des MI5. Einzig der britische Inlandsgeheimdienst verfügt über einen trumpsicheren Twitterkanal. CSB Samdingdon ist wieder auf Posten.

 

London, 10 Downing-Street, 11.14 Uhr Ortzeit:

CSB Samdingdon verschluckt sich an einem Fisherman´s. Die britische Börse sackt kurzzeitig auf den niedrigsten Stand seit 11.05 Uhr. Nach fünf Schrecksekunden hat der Sicherheitsbobby die Situation wieder im Griff. Das Britische Pfund macht den zwischenzeitlich verlorenen Boden gegenüber dem Euro wieder wett.

 

London, 10 Downing-Street, 11.59 Uhr Ortzeit:

Nach knapp zwei Stunden Erdgeschoss zeigt der Livestream plötzlich auch die Fenster der 1. Etage. Adelsexperte Rolf Seelmann-Eggebert wird aus dem Ruhestand geschellt. Nur er kennt die Story der Stores. Es handelt sich um handgesäuselte Seidenflores aus dem Besitz des letzten Vizekönigs von Indien, hauchdünn durchzogen mit silbernen Yorkrosen im Lancasterstil. Der dem Zigarrenqualm von Winston Churchill zugeschriebene Gilb wird liebevoll durch die Denkmalpflegestiftung English Heritage bewahrt. Seelmann-Eggebert muss weinen. Wir verzeihen ihm spontan 15 Jahre dämliches Dazwischenquatschen bei „Rule Britannia“ in der ZDF-Übertragung der „Last Night of the Proms“.

 

London, 10 Downing-Street, 12.00 Uhr Ortzeit:

Die Medien in Schockstarre: Exakt in dem Moment, als Regierungskater Larry seinen Lunch vor die Number-Ten-Tür gestellt bekommt, rennt ein Unbekannter durchs Bild und vereitelt die Übertragung des sweetest catvideo ever. Der Mann wird von aufgebrachten Kameraleuten mit Fish&Chips beworfen. Kurz darauf wird er als Dennis Butchbaker (57), frühverrenteter Busfahrer aus Maselthornton in Lincolnshire, identifiziert. Gegenüber der BBC gibt er an, er habe seiner Dauerverlobten Helen May (61) vor laufender Kamera einen Heiratsantrag machen wollen. Er bekommt einen Vertrag für die beliebte BBC-2-Dokusoap „Busfahrer sucht Frau“.

 

London, 10 Downing-Street, 12.19 Uhr Ortzeit:

Es kommt Bewegung in den Livestream: Der Dienstwagen der Regierungschefin wird vorgefahren. Mays persönliche Referentin Gwendolyn Spindry holt noch schnell die Sitzerhöhung für ihren Sohn aus dem Fonds. In Absprache mit der Nationalen Britischen Fahrbereitschaft (BND) durfte sie den Dienstwagen zuvor nutzen, um Mortimer Henry (4) zum Chinesischunterricht zu bringen. Cheffahrer John Muffles saugt im Handumdrehen die Glückskekskrümel von der Rückbank. Theresa May findet später zwischen den Ritzen einen kleinen weißen Zettel mit dem Spruch „Gute Zäune machen gute Nachbarn“. Sie wertet das als positives Omen für die Brexit-Verhandlungen.

 

London, 10 Downing-Street, 12.21 Uhr Ortzeit:

Endlich. Das endlose Warten hat ein Ende: Premierministerin Theresa May tritt vor die Tür und gibt eine kurze Erklärung ab. May trägt ein königsblaues Kostüm, bestehend aus königsblauem Blazer und königsblauem Rock. Dazu Schuhe. Was sie sagt, ist wegen eines tieffliegenden Helikopters nicht zu verstehen. Es hat wohl irgendetwas mit der Parlamentswahl am Vortag zu tun.

 

London, 10 Downing-Street, 12.24 Uhr Ortzeit:

Theresa May steigt in den Wagen und fährt zum Buckingham Palace. Dort muss sie noch vier Stunden und 36 Minuten im Wartezimmer Platz nehmen; denn den Fünf-Uhr-Tee bei der Queen gibt es of course erst um five o´clock. Der Liveblog zeigt derweil die Haustür von 10 Downing Street. Der Vollständigkeit halber: Zwischen 12 und 12.30 Uhr deutscher Zeit hat es in London leicht geregnet.

 

Herzlichen Dank an „Spiegel online“ für den Mut zu atemberaubender Entschleunigung. Unter dem Deckmantel eines Liveblogs hat der 10-Downing-Street-Tag bewiesen, dass sich aus der absoluten Abwesenheit von Handlung heraus pure Dramatik entwickeln kann. Der achtsame Blick auf eine über Stunden geschlossene Haustür und das geduldige Stehvermögen von CSB James P. Samdingdon brauchen den Vergleich mit „Warten auf Godot“ oder mit der „Wo ist Behle?“-Skilanglaufübertragung aus dem Nebel der Olympischen Winterspiele von Lake Placid 1980 nicht zu scheuen. Welch eine Wohltat im Twitter-Gewitter.


© Satzverstand Juni 2017

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