Der echte Karl Marx – unvergessen!

Mit dreieinhalb Jahren musste ich mir erstmals ernsthafte Gedanken über meine Berufswahl machen. Bei der Taufe meiner kleinen Schwester fragte mich der Herr Pastor, was ich denn mal werden wolle. „Bauer!“, habe ich nach Aussage glaubhafter Ohrenzeugen geantwortet.

Dazu musste ich nicht lange nachdenken. Denn wie für viele Studenten zu der Zeit war Karl Marx mein großes Vorbild. Und Karl Marx war Bauer. Er wohnte keine 200 Meter von uns entfernt auf einem großen Bauernhof, hatte einen grünen Deutz-Trecker, viele Kälbchen, viele Ferkel, viele Hühner, eine Mutter und einen Vater – Marx Mutter und Marx Vatter, wie die Erwachsenen zu sagen pflegten.

Bei „Onkel Karl“ saß ich zum ersten Mal auf dem Trecker, sicher vertäut mit einem Kälberstrick. Später habe ich bei ihm Unmengen an Haferkleie, Runkeln, Heu und Stroh für meine expandierende Kaninchenzucht bezogen. Bei Karl kostete unabhängig von der Menge in der Schubkarre alles immer 50 Pfennig. Wenn ich Pech hatte, machte Karls Vater die Stalltür auf. Der galt als geizig und nahm eine Mark. Aber auch das war sicher weit unter Weltmarktpreis.

In meiner Heimatstadt gab und gibt es eine Menge Marxe. Trotzdem ist die Gegend nie dem Marxismus anheim gefallen. Im Gegenteil: Der berühmteste lebende Marx der Stadt ist Mittelstürmer in der gegnerischen Mannschaft. Er heißt mit Vornamen Reinhard-Kardinal, wohnt seit einiger Zeit sehr zentral in München, darf als Chef der deutschen katholischen Bischöfe den Papst duzen und muss sich wie alle Westfalen ständig mit Rheinländern herumärgern – im aktuellen Fall mit einem gewissen Herrn Woelki aus Köln.

Apropos Duzen: Nach der Onkel-Karl-Phase habe ich Karl Marx jahrelang gesiezt. Wie Westfalen eben so sind. 1988 haben wir dann bei einer angemessenen Veranstaltung „auf Du“ getrunken. Für die Lokalzeitung durfte ich damals weltexklusiv über eine Veranstaltung des Landwirtschaftlichen Ortsvereins berichten. Der Expertenvortrag war brisant: „Neue Aspekte der künstlichen Schweinebesamung.“

Den Artikel habe ich nicht mehr. Doch ich erinnere mich daran, dass ich dank mehrerer Pilskes beim späteren Schreiben nicht mehr alle Aspekte der modernen Schweinebesamung auf dem Schirm hatte. Damit ich wenigstens mit einem prickelnden Foto glänzen konnte, hat mir Karl anderntags quicklebendige Resultate natürlicher Schweinebesamung für ein Ferkel-Fotoshooting auf die Wiese geholt.

Vermutlich hat sich unser Karl Marx lebenslänglich nicht mit den Fragen des historischen Materialismus belastet. Dafür kannte er sich aber perfekt mit dem Mehrwert aus. Sie wissen schon: die Differenz zwischen dem Wert einer Ware einerseits und der Summe aus dem Wert der zur Herstellung des Produktes notwendigen Arbeitskraft und dem Wert der für die Herstellung nötigen Rohstoffe, Vorprodukte, Maschinen- und Energiekosten andererseits. Der andere Marx halt.

Der ideologische Kampf um den Mehrwert entzündete sich bei Karl stets an einem Karton mit zehn Eiern. Die kosteten bei ihm über Jahrzehnte immer zwei Mark – auch nach Einführung des Euro. Häufig trat der Fall ein, dass meine Mutter für den eisernen Junggesellen einen Apfelkuchen buk, Karl ihr aber grundsätzlich „nichts schuldig“ bleiben wollte.

Also brachte er die zwei Mark, die ihm meine Mutter für den „Rohstoff“ auf den Eiertisch in der Waschküche hingelegt hatte, postwendend zurück, um sie für Arbeitskraft und Kuchenmehrwert zu entschädigen.
Meine Mutter wiederum lehnte das Geld stets ab. Schließlich hatte sie ja nur acht der zehn Eier für den Kuchen verwendet. Der rituelle Eiergeldtanz konnte sich durchaus über Stunden hinziehen. Gewonnen hat ihn aber immer der Herr der Hühner.

Nachdem Karl Marx in Rente gegangen war und all sein Land verpachtet hatte, konnte er sich endlich mit voller Kraft seiner großen Leidenschaft widmen: der Neugier. Landauf, landab war niemand so gut über allgemeine und spezielle Familienverhältnisse, über Pachtpreise und Landverkäufe informiert wie Karl. Was er nicht selbst durch akribische Recherche-Pläuschchen in Erfahrung bringen konnte, ließ er sich auf der Holzbank auf seinem Hof von den zahlreichen ehremamtlichen Mitarbeitern seines Nachrichtendienstes berichten.

Mit Karl Marx hatte Marx Karl zeitlebens nichts am Hut. Schon wegen einer grundsätzlich unterschiedlichen Herangehensweise an die Sache mit dem Kapital. „Karl Marx hat `Das Kapital´geschrieben, Marx Karl hat das Kapital unter der Matratze“, hieß es bei uns. Was vermutlich auch stimmte.

Letztes Jahr im Juni ist unser Karl Marx gestorben, 85 Jahre alt und am gleichen Tag wie Helmut Kohl. Manchmal erlaubt sich die Geschichte solche Sachen. Mit Karl ist ein Stück Heimat gegangen. Er fehlt. Was kann man jemandem Schöneres nachsagen.

© Satzverstand Mai 2018


Bei Theo Groene bedanke ich mich herzlich für die Erlaubnis, das Bild von Karl Marx auf dem „Bekennerfelsen“ zu verwenden. Es ist Teil der außergewöhnlichen
Imagekampagne „Ich steh´auf Geseke“, für die der Fotograf und Grafiker Bürger der Stadt auf einem für die Region typischen Kalkstein fotografiert hat. 2016 war die Ausstellung auch in der NRW-Landesvertretung in Berlin zu sehen.

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