(24.07.17) Heute in zwei Monaten ist Bundestagswahl. 63 Parteien sind zugelassen. Und in keinem einzigen Wahlprogramm findet sich auch nur eine Zeile, geschweige denn eine Lösung für ein wirklich wesentliches Problem: die Babysitterkrise.
Haben Sie in letzter Zeit mal versucht, einen Babysitter zu bekommen? Nix zu machen, wenn sie nicht über selbstlose Verwandte verfügen oder rechtzeitig an ältere Geschwister gedacht haben. Selbst angeblich beste Freunde rücken keine Telefonnummern raus. Wer noch einen Babysitter hat, schirmt ihn hermetisch vor jeder Konkurrenz ab.
Die Bildungshysterie hat den Markt leergefegt. In der früher besten Sitterzeit zwischen 13 und 16 Jahren machen die Mädels heute ihren Bachelor und mit 17 dann den Master irgendwo in Übersee. Oder aber sie verdienen sich bereits ein goldenes Teenie-Näschen mit Schminktipps auf Youtube.
Neulich wollten wir mal spontan ins Kino gehen. „Ob ich heute Abend Zeit habe?“ – Das hysterische Lachen hallt immer noch in meinem rechten Ohr nach. Dann hat die junge Dame mit Sicherheit unseren Namen samt Adresse und Emoji für „komplett Irre“ in ihr WhatsApp-Universum gepostet. Inzwischen wechseln Nachbarn die Straßenseite. Mit Wahnsinnigen, die glauben, mittags spontan für den Abend einen Babysitter bekommen zu können, will keiner gesehen werden.
Die Auftragsbücher der wenigen verbliebenen Babysitter sind auf Jahre hinaus gefüllt. Kinos bieten Snake Previews inzwischen vorwiegend für teiggesichtige Eltern an, die schon vor vier oder mehr Jahren die Karten für den Überraschungsfilm bestellt haben, um rechtzeitig zur Vorstellung einen Babysitter zu bekommen. Zu dem Zeitpunkt wusste noch nicht einmal der Regisseur, dass er diesen Film mal drehen wird.
Mittlerweile verteilen kleine Mädchen im Kindergarten Visitenkarten mit Link zu ihrer Facebookseite. Da kann man sich für Termine nach ihrem Start ins Babysittergeschäft in acht oder neun Jahren vormerken lassen. Wir haben uns gestern mehrere Termine bei Karenina-Anna (5) von 2025 bis 2030 gesichert.
Unsere Freunde K. und R.* verheimlichen uns standhaft, wie sie es geschafft haben, kurzfristig für den Karnevalssamstag 2020 eine abendliche Nachwuchsaufsicht zu bekommen. Aber neulich lag bei Ihnen zufällig die Auftragsbestätigung so gut wie fast offen auf der Küchenanrichte. Darin sichern sie ihrer Babysitterin neben dem ohnehin selbstverständlichen schnellen WLAN-Zugang für alle mobilien Endgeräte und der An- und Abreise in einem bequemen PKW der Oberklasse auch doppelten Mindestlohn plus Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Anteile an einem lukrativen Vermögensfonds in Panama zu.
Außerdem versichern K. und R. an Eides statt, dass sie ihre Tochter nicht anti-autoritär erzogen haben und garantieren, dass Miriam-Henriette rechtzeitig vor Eintreffen der Babysitterin ein- und dann verlässlich durchschläft. Im Gegenzug garantiert die Dienstleisterin, spätestens fünf Minuten vor Arbeitsbeginn abzusagen, sollte ihr spontan etwas dazwischenkommen.
Das können wir auch! Morgen trenne ich mich von meinen Münz- und Briefmarkensammlungen. Mit dem Erlös finanzieren wir der potentiellen Babysitterin ein Stipendium in Oxford oder Harvard. Falls sie partout nicht studieren möchte, richten wir ihr zur späteren Existenzgründung gerne ein cooles Szene-Cafe oder ein hippes Hairstudio ein. Alternativ buchen wir Justin Bieber für ein exklusives Privatkonzert. Dafür hat der Gute extra seine Welttournee abgebrochen.
Die Kinokarten können wir uns dann natürlich nicht mehr leisten. Egal. Es geht ums Prinzip.
*Kürzel geändert, denn D. und C. können selbstverständlich nicht riskieren, dass man ihrem Babysitter abends vor dem Haus auflauert und mit einem größeren Aktienpaket einer südafrikanischen Goldmine abwirbt.
© Satzverstand Juli 2017