(06.12.17) Weil Deutschlands Knirpse ihre Wunschzettel nicht mehr fehlerfrei kritzeln können, schlägt sich das Christkind jetzt ständig mit Reklamationen herum.
„Aber lesen können die kleinen Racker die Lego-, Playmobil- oder Playstation-Werbung wenigstens“, haben wir bis jetzt gedacht. Pustekuchen! Bei jedem fünften Grundschüler hapert´s an der Lesekompetenz, bescheinigt den verzweifelten Eltern die neue PIRL-Study, bei uns besser bekannt unter dem lustigen Namen IGLU.
Zunächst ist festzustellen, dass auch an diesem Desaster selbstverständlich und ausschließlich die Flüchtlinge schuld sind. Schließlich werden sie ja zu diesem Zweck in großer Zahl von der AfD aus Mitteln der Wahlkampfkostenerstattung beschäftigt.
Sodann kann für alle besorgten Eltern Entwarnung gegeben werden, die lediglich für bis zu vier Kinder täglich die Hausaufgaben erledigen: Kind 1, 2, 3 und 4 können ja laut Studie superplus, supernormal oder zumindest supergehtso lesen. Erst Steppke 5 und drüber sind bei IGLU durchgefallen. Damit relativiert sich das Drama schon mal deutlich.
Alsdann bleibt festzuhalten, dass die lieben Kleinen für den aktuellen Test eine anrührende Geschichte aus dem Sozialgesetzbuch flüssig vorlesen mussten: den so bekannten wie beliebten Abschnitt über das Einkommen beim Zusammentreffen mit Renten wegen Todes innerhalb der gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung.
Vier von fünf Primarstuflern konnten diesen dreiseitigen Text nicht nur in der vorgegebenen PISA-DIN-Zeit von 42 Sekunden flüssig lesen, sondern im anschließenden Gespräch mit den IGLU-Beauftragten auch inhaltlich korrekt interpretieren. Das schaffen selbst Sozialgerichte nur in wenigen Fällen.
Sicher könnte auch das beklagenswerte fünfte Kind tadellos aus dem Sozialgesetzbuch vortragen, wenn das stündlich wachsende Heer von Lernkonzeptentwicklern, Kultusbeauftragen, Fachwissenschaftlern, Bildungspolitikern und pfiffigen Testdesignern die studiengeplagten Lehrerinnen und Lehrer mal ein paar Tage am Stück ihre Arbeit machen ließen.
Dass die „Schreiben-wie-Hören“-Gurus Eltern reihenweise in den Wahnsinn treiben, ist theoretisch ein Fall für das UN-Schulverbrechertribunal. Aber wie in der Rüstungsindustrie geht es in der Praxis nicht um Menschenleben, sondern um Arbeitsplätze. Allein in Deutschland sind nach grober Satzverstand-Schätzung rund 4,16 Millionen Menschen in der lukrativen Lese-Rechtschreib-Rechen-Schwäche-Beseitigungswirtschaft beschäftigt – Tendenz steigend.
Ein noch viel gewaltigerer Job-Boom dürfte sich entfalten, wenn sich die Digitalliberalen mit Ihrer Forderung Daddeln statt schreiben durchsetzen. „Digital first, Bedenken second“ auch in der Schule – darauf freuen sich schon jetzt alle Erziehungsberechtigten, die nur noch unter Einsatz von Pfefferspray die von Experten empfohlene Höchstens-eine-halbe-Stunde-Tablet-Regel durchsetzen können.
Wer schlau ist, macht jetzt noch schnell eine Umschulung zur Schulpsychologin, zum Medientherapeuten oder Daddeldidaktiker. Oder füllt sich ein Depot mit Aktien der Telekom, von Apple oder Samsung, eTafel-Herstellern, vielsprechenden Schulsoftware-Startups oder Phsychopharmakaproduzenten. Ihr nächstgelegener FDP-Abgeordneter berät sie da sicher gern.
Das ist ist kein wohlfeiles Geschwurbel, sondern das Ergebnis einer kohortengestützten und evidenbasiert evaluierten sowie repräsentativen Lehrer-Eltern-Kind-Beobachtung (N=1) im Auftrag von Satzverstand im Umfeld der Klasse 4a einer Bonner Grundschule, die zufällig damit beauftragt ist, unserem Sohn Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Denn darum geht es. Eigentlich.
© Satzverstand Dezember 2017