Urlaub. Entspannen. Digitale Diät. Zum perfekten Entschleunigen habe ich mir vor der Abfahrt an die Ostsee schnell noch eine App geladen. Sie wird sich in den nächsten zwei Mußewochen akkurat um meine mentale Balance kümmern. Wunderbar…
Kennen Sie diese lustige Postkarte „Albtraum für Fischer – Kein Netz“? Die Idee dazu hatte Beck bestimmt in Kellenhusen. Denn im laut Eigenwerbung „schönsten Ostseebad der Welt“ haben Fischer tatsächlich kein Netz. Weil dort NIEMAND Netz hat. Dort funktioniert auch keine App zur digitalen Entschleunigung. Dort praktiziert man brutalen, eiskalten digitalen Entzug.
Die erste Nacht ohne Netz verbringen wir schlaflos. Uns wird klar, dass wir nicht erreichbar sind, wenn daheim Unwetter das Haus wegspülen. Wir werden vom Tod lieber Menschen aus dem Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis erst erfahren, wenn diese schon längst feierlich bestattet worden sind.
Am nächsten Morgen stirbt aber zuerst einmal die übernächtigte Hoffnung, dass bloß etwas mit unseren mobilen Endgeräten nicht in Ordnung sein könnte. „Wir ham hier jede Menge H²O, aber kein O2″, nordelt gut gelaunt der skrupellose Strandkorbpirat. Hahaha, das Beste am Norden ist Euer Humor.
Mittags fällt uns die Menschentraube auf der Strandpromenade auf. Vor dem Kurhaus wird kostenlos WLAN an Bedürftige ausgegeben. Wir sind sehr bedürftig. Eingeloggt in das öffentliche Netz warten wir sorgenvoll auf das Eintreffen der seit knapp 28 Stunden ausstehenden E-Mails.
Mit uns warten noch mindestens 1.000 weitere Netzlose. Gemeinsam bringen wir das Strand-WLAN auf eine Powerebene knapp unter der Leistung meines liebevoll aufbewahrten 56-k-Modems. In Sichtweite erdreistet sich eine gewissenlose Blondine zur Videotelefonie. In der Sahara würde sie sich vermutlich mit den letzten Wassertropfen die Haare waschen.
Nach 16 Minuten ist die erste E-Mail geladen: Im Online-Nachbarschaftsnetzwerk bietet jemand ein 28er-Damenfahrrad für 35 Euro an. Gut zu wissen. Nach weiteren zehn Minuten ist klar, dass bislang noch niemand gestorben ist. Bei stickerkid.de gibt es 20 Prozent auf Namensetiketten für die Schulsachen. Für den Online-Bestellvorgang reicht leider die Urlaubszeit nicht.
Abends suchen am Strand Spezialisten mit schwerem Gerät nach Netz. Aber sie finden nur Strandmuschel-Heringe und Fritz-Cola-Kronkorken. Doch in Grube, Dahme und Kabelhorst soll es am nächsten Vormittag echtes Mobilnetz geben. Das erfahre ich nachmittags in der Strandbar von Horst und Doris aus Bochum.
Das sollte eigentlich ein Geheimtipp sein. Aber Doris und Horst waren am Vorabend im knapp 140 Kilometer entfernten Wacken. Ein Schwippschwager von Horst ist Gitarrist bei der Metal-Band Halloween. Weil in Wacken traditionell eher laut musiziert wird, schwingen die Stimmbänder von Doris und Horst noch kräftig nach. Ihr Flüstern sorgt dafür, dass sich am nächsten Morgen schon ab 6 Uhr die Autos in Richtung Kabelhorst stauen. Grube hat die Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits großräumig abgesperrt.
Wir haben uns glücklicherweise gegen die Netzlemminge und für Cismar entschieden. Dort gibt es WLAN im Klostercafe. Digital ausgemergelt kann ich dort endlich meine Entschleunigungs-App starten. Die erste Aufgabe: Zum behutsamen Beginn der digitalen Diät das Smartphone zunächst für ein bis zwei Stunden vom Netz nehmen. Dank Kellenhusen kann ich diese und die nächsten 24 Achtsamkeitseinheiten locker überspringen.
Wir waren dann tatsächlich auch noch im Wasser.
© Satzverstand, 9. August 2018
PS: Kellenhusen hat tatsächlich kaum Mobilnetz. „Gerade Netze, die in Großstädten verbreitet sind, haben im Ort schlechten Empfang“, hat der Bürgermeister neulich gesagt. Er heißt Nebel. Kein Witz. Auch Horst und Doris gibt es wirklich, und sie waren auch tatsächlich beim Heavy-Metal-Open-Air in Wacken. Ihren so lautstarken wie emotionalen Bericht am Nebentisch in einer Strandbar habe ich aus Chronistenpflicht für die Nachwelt notiert. Deshalb weiß ich jetzt, dass der Helloween-Gitarrist, mit dem sie entfernt verwandt sind, sich erst kürzlich eine sündteure „schwatte Fernandes“ gekauft und der Doris nach dem Auftritt in Wacken noch um 4 Uhr eine WhatsApp-Nachricht geschickt hat. Und dass er nach jedem Konzert, bevor er frühmorgens ins Hotelbett fällt, noch eine Calzone mit ganz viel Ketchup verputzt. Doris hat immer noch Ärger mit Gelsenwasser wegen der ISTA-Abrechnung. Und Horst sagt, dass Till Schweiger seinen ersten und letzten guten Auftritt in „Manta, Manta“ hatte. Außerdem ist er sich sicher, dass der HSV nach der 0:3-Auftaktniederlage in der 2. Liga gegen Holstein Kiel in die 3. Liga durchmarschiert. Das allerdings nehme ich ihm als HSV-Fan aus den Tagen von Ernst Happel, Kevin Keagan und Manni Kaltz echt übel.
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