(21.12.16) Lange nicht Neues gelesen? Das tut mir sehr leid. Aber ich kann momentan nur sehr eingeschränkt arbeiten. Eigentlich nur zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens. Das ist das letzte verbliebene Zeitfenster, durch das nach draußen dringendes Licht keine Paketzusteller anlockt.
Aber auch diese Geschichte fängt vorne an: Mein Opa hat mir als Kind erklärt, was Gaunerzinken sind. Das sind kleine Schriftzeichen, mit denen Einbrecher und andere Übelkrähen einander mitteilen, ob in einem Haus etwas zu holen ist. Opa war schlau und hat selbst die Kreidezeichen für „Achtung Alarmanlage“ und „Arme Schweine, lohnt sich nicht“ unten an die Haustürkante geritzt. Leider hat er nicht bedacht, dass sich diese Zeichen irgendwie widersprechen. Kurz darauf haben Trickbetrüger der Oma 100 Mark aus der Telefontischschublade im Hausflur gemopst, als sie zwei Mark für die armen Kinder in Afrika aus der Küche geholt hat.
Warum erzähle ich das? Letzte Woche habe ich dem Hermes-Mann wie jedes Jahr um diese Zeit die 15 Weinkartons für Johannes* hinten rechts im Wendehammer abgenommen. Und was sehe ich aus dem Augenwinkel beim Bordeaux-Zwischenlagern im Gästeklo? Freund Hermes kritzelt schnell etwas neben unseren Briefkasten. Ganz klein, kaum zu sehen. Als er weg ist, finde ich ein runenartiges Zeichen. Über das Internet habe ich dann herausgefunden, dass es inzwischen eigene Paketbotenzinken gibt. Bei uns steht jetzt an der Wand: „Gutmütiger Trottel. Immer zu Hause, nimmt alles an.“
Da ist mir aber derartig die Hutschnur geplatzt! Allein Gevatter Hermes habe ich in den letzten zwei Wochen die Verteilung von 81 Amazon-Sendungen für unseren eigenen und zwei benachbarte Wendehammer abgenommen. Dazu kommen 68 DHL-Pakete und 21 UPS-Annahmen, darunter ein 26-teiliges Schlagzeug für den atonalen Nachwuchsdrummer der Beisendorfs* und ein Chaiselounge mit Teetischchen von Porta, das die Schusters* wegen Magen-Darm leider nicht selbst annehmen konnten. Neulich habe ich sogar drei Barrel Druckertinte für den Copyshop im Nachbarort übernommen. „Gutmütiger Trottel“ – ich glaub´s nicht!
Jetzt ist Schluss mir der Hilfsbereitschaft. Sollen die Handlanger der Onlinegesellschaft doch sehen, wem sie ihre verwaisten Warensendungen unterjubeln. Es wohnen schließlich noch andere Leute im Wendehammer. Allerdings habe ich Johannes schon länger nicht mehr gesehen. Egal, der Wein im Gästeklo wird ja nicht schlecht. Gut, Beisendorfs sind bis Neujahr verreist. Und Müllers* sind auch seit einigen Wochen tagsüber nicht mehr zu sehen. Aber warum sind bei Winters* die Rolladen auch tagsüber unten? Warum parken Heinemanns* ihr Auto schon länger nicht mehr vor der eigenen Tür? Und überhaupt: Warum trifft man im Hellen niemanden mehr auf der Straße?
Vorgestern hat mich Frau Tillgers aufgeklärt. Wendehammer-Urgestein. Wir selbst haben uns ja erst später reingekauft. Frau Tillgers läuft jeden Tag und bei jedem Wetter mit ihren Nordic-Walking-Stöcken Streife. Sie kennt jeden, weiß alles und alles besser, sagt auch allen alles – also Facebook auf zwei Beinen. Sie könne es nicht mehr mit ansehen, sagt Frau Tillgers. Ich sei ja wirklich der einzige gutmütige Trottel im Umkreis von zwei Quadratkilometern, der nicht wisse, wie man sich im Advent vor Paketzustellern schütze.
Zwei Stunden Nachbarschafts-Update und vier Minuten Beratung später weiß auch ich, wie es geht: Rolladen bleiben unten. Licht aus, Stirnlampen an. Das Kind wird morgens schon um sechs Uhr durch den Türspalt auf den Schulweg geschoben. Danach wird der Strom abgedreht. Kein Mucks mehr zwischen 7 und 20 Uhr. Keine Heizung – wegen der Rauchzeichen. Keine warme Mittagsmahlzeit, damit DHL & Co. den Braten nicht riechen. Das Auto steht vier Straßen weiter und das Leben verlagert sich in den Keller. Kein Problem, denn Flur, Treppenaufgang, Küche, Gästeklo und Wohnzimmer sind ja ohnehin mit noch nicht abgeholter Ware vollgestopft.
Nach Weihnachten beginnt angeblich wieder das normale Leben – sagt Frau Tillgers. Moment, es hat geklingelt. Das ist…das wird…ja kann denn das sein? Oh nein, ein UPS-Mann mit Nachtsichtgerät!
© Satzverstand 2016
*Die Namen sind nicht geändert, aber mit Blick auf gut nachbarschaftliche Beziehungen vertauscht.
Das Bild zum Beitrag zeigt im Anschnitt unsere nette Postzustellerin, der wir natürlich immer öffnen und alles für die Nachbarn abnehmen. Die Pakete auf dem Bild stehen seit drei Tagen bei uns im Flur und können zu den üblichen Schalterstunden abgeholt werden.