Endlich! Anrufschranke wird UNESCO-Weltkulturerbe

(19.05.17) Only bad news are good news? Aber not mit Satzverstand! Hier schätzen und schützen wir das Schöne, Gute, Wahre. Deshalb vermelden wir mit großer Freude, dass die UNESCO am 19. Mai 2017 die Anrufschranke Öchtringhausen in die Liste der Weltkulturerbestätten aufgenommen hat. Endlich! Hipp, hipp, hurra!

„Langer Atem zahlt sich aus“, freut sich auch Erwin D. B. Drüggelte vom Verein Freunde der Anrufschranke Öchtringhausen e. V.. Da hat er wohl recht, denn bereits 1972 hat sein Verein gemeinsam mit der UNESCO-Regionalorganisation Westostwestfalen (WOWESCO) die Aufnahme des Schrankenkleinods in die Weltkulturerbeliste beantragt. „Da muss wohl irgendwo was liegengeblieben sein. Egal, das Ergebnis zählt“, sagt Drüggelte ohne Groll.

Mit dem Weltkulturerbestatus für den Bahnübergang Öchtringhausen zeichnet die UNESCO die weltweit älteste Gleisfurt Europas aus. Der Legende nach ist der Übergang in der Zeit der großen Völkerwanderung entstanden. Ein Trupp Wandalen soll auf dem Weg nach Spanien die Pappelholzsschranken zerbrochen haben, die von den Langobarden zur Trennung von West- und Ostgoten aufgestellt worden waren. Dieser Vandalismus wurde sprichwörtlich und macht der Bahn bis heute zu schaffen.

Wie funktioniert eine Anrufschranke? Der Satzverstand-Lehrfilm zeigt´s:

 

Schriftlich wird der Übergang dann erstmals in der Vita Karoli Magni erwähnt. In diesem vom Gelehrten Einhard im 9. Jahrundert verfassten Loblied auf Karl den Großen heißt es über die Lokalität in leidlichem Latein: „Hic bonum locus est pro via locomotivia inter civitates deinde“ – grob übersetzt: „Das hier wird dereinst mal ein guter Weg für einen InterCity sein“.

Über Karl den Kaiser hat Einhard eine Menge Unsinn zusammenschwadroniert. Aber in Sachen Lokomotive erwies er sich als wahrer Visionär: Schon knapp tausend Jahre später wurde tatsächlich die Eisenbahn erfunden und kurz darauf eine der wichtigsten Bahnstrecken Westfalens zu Ehren Einhards über den idyllischen Verkehrsknotenpunkt Öchtringhausen gedängelt.

Schriftlich wird der stets bescheiden auftretende Übergang dann aber erst wieder am 10. August 2011 erwähnt. In der liebenswerten Heimatzeitung schreibt ein unbekannter Redakteur sichtlich bewegt: „Aufgrund von Gleisbauarbeiten am Bahnübergang in Öchtringhausen wird dieser vom 27. bis zum 31. August voll gesperrt. Der Übergang mit Anrufschranke kann in dieser Zeit nicht genutzt werden, sodass Umwege über Dedinghausen, Mönninghausen und Ehringhausen in Kauf genommen werden müssen, um die Sperrung zu umfahren. Die Stadt Lippstadt bittet um Verständnis.“ Nicht nur für Historiker eine Quelle von zeitlos schönem Wert.

Ferien vor der Schranke

Erwin D. B. Drüggelte widmet seine gesamte Freizeit der Anrufschranke. „Seit knapp zehn Jahren verbringen wir die Hälfte der Sommerferien auf der Südseite des Übergangs und dann drei Wochen auf der Nordseite“, erzählt er im Hobbykeller seines Hauses. Stolz präsentiert er dort ein Modell der Anrufschranke. Seine Frau Mia-Marie hat es in einem VHS-Kurs hergestellt – aus Salzteig, Fimo und Streichhölzern im Maßstab 1:1.

„Zur eigentlichen Anrufschranke wurde die Anrufschranke allerdings erst durch die Erfindung des Anrufschrankenbeantworters“, erläutert Übergangsexperte Drüggelte. „Der erste Anrufautomat wurde schon am 1. April 1903 aufgestellt. Aber es gab sehr, sehr lange niemanden, der die Anrufe professionell beantworten konnte. Erst mit dem Berufsbildungsgesetz von 1969 wurde in der Bundesrepublik die dreijährige Ausbildung zum Anrufschrankenbeantworter eingeführt.“

Seit 2003 kein reiner Männerberuf mehr

Laut Statistik gibt es in Deutschland aktuell 47 staatlich geprüfte Anrufschrankenbeantworter und Anrufschrankenbeantworterinnen. Seit 2003 steht der Beruf nach einer Grundsatzentscheidung des Eisenbahn-Bundesamtes in Berlin auch Frauen offen. Drüggelte: „Es hat lange Streit darum gegeben, ob Frauen für diesen sensiblen Beruf geeignet sind. Genetisch fehlt ihnen ja eher die Disposition zum knappen Telefonat.“

Dieser Streit ist inzwischen beigelegt. Seit 2004 müssen alle Anwärterinnen und Anwärter vor der Anrufschrankenapprobation den Stephenson-Bell-Eid ablegen. „Er verpflichtet uns, alles vertraulich zu behandeln, was wir über den Fernsprecher hören“, sagt Sebastian Münnekemeyer. Der sympathische Fahrdienstleiter betreut seit acht Jahren im Stellwerk Lippstadt die Anrufschranke Öchtringhausen.

Er erklärt, was viele nicht wissen: „Die meisten meinen, dass wir im Stellwerk Lippstadt nur etwas hören, wenn sie den kleinen Hebel am Telefon drücken. Aber wir hören auch ohne Hebel alles, was sich an der Schranke abspielt – Tag und Nacht, rund um die Uhr. Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen…. aber ich darf es ja leider nicht.“

Krisenmodus für Gleissprechstunden

Ende 2016 hat Münnekemeyer die berufsbegleitende Zusatzausbildung zum Schrankentherapeuten abgeschlossen. Jetzt kann er akut eingreifen, wenn sich zum Beispiel Paare vor der Schranke in die Wolle kriegen. „Wer auf durchfahrende Züge warten muss, hat plötzlich viel Zeit. Das ist wie an Weihnachten. Da kommen Dinge hoch, die im Tagesstress auf der Strecke bleiben. Mit mir können die Betroffenen dann in Ruhe über alles reden.“

Kracht es vor der Schranke, schaltet Münnekemeyer seine Anlage in den Krisenmodus: „Die Gleissperre wird erst gelöst, wenn sich alle wieder vertragen haben. In diesem Jahr habe ich schon drei Beziehungen über die Schienen gerettet.“ Inzwischen hat er Stammgäste, die zwei- bis dreimal pro Woche zur Gleissprechstunde kommen.

Männer wechseln von der Theke an die Schranke

Vor allem in der Nacht zum Samstag bleiben die Schranken häufig länger unten. Denn am Wochenende herrscht Hochbetrieb beim Schwalbenwirt, einem beliebten Ausflugslokal nördlich des Gleisbetts. „Dann wechseln vor allem Männer in den besten Jahren von der Theke an die Schranke und schütten mir ihr Herz aus. Die Kolleginnen und Kollegen nennen mich schon den Schranken-Domian“, lacht Münnekemeyer.

Der Anrufschrankenprofi und der Anrufschrankenfan Drüggelte fahren am 27. Mai gemeinsam nach Berlin, um am Internationalen Tag der Anrufschranke aus der Hand von UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokowa die Weltkulturerbe-Urkunde entgegenzunehmen. Der Übergang bleibt so lange geschlossen. Bitte fahren Sie derweil über Dedinghausen, Mönninghausen oder Ehringhausen. Danke für Ihr Verständnis.


© Satzverstand Mai 2017

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