Die Qual der Wahl (2): Briefwahlboom

(11.09.17) Haben Sie noch nicht gebriefwählt? Dann gehören Sie aber zu den Allerletzten – zeitlich gesehen. Die Bundestagswahl ist doch schon so gut wie gelaufen. Gefühlt haben bereits 77,77 Prozent der Wahlberechtigten per Briefwahl abgestimmt. Darunter auch vier Millionen notorische Nichtwähler, die die Wahlbenachrichtigung irrtümlich für ein Gewinnspiel mit 10-fach-Paybackpunkten gehalten haben.

Am 24. September muss abends nur noch ausgezählt werden. Für die wenigen verbleibenden Echtzeit-Urnengänger werden nur noch ein paar zentrale Wahllokale geöffnet. Die Rede ist von zwei bis sechs pro Bundesland. Wer mehr als 100 Kilometer bis zur Stimmabgabestelle anreist, bekommt eine zweite Erstimme gratis. Der Verpflegungsmehraufwand wird gemäß Bundeswahlreisekostenordnung erstattet.

Hinter dem Briefwahlboom steckt eine nie dagewesene Briefwahlkampagne fast aller Parteien. Aber warum sind CDU, SPD, Grüne, FDP, CSU und Linkspartei so scharf auf die Umschläge? Es ist die pure Angst, dass bis zum 24. September noch irgendwas passiert, was die Wähler massenhaft in andere Arme treibt. Da ist jede Briefwahlstimme Goldes wert, die man schon mal im Postsack hat.

Schwarz und Magentagelb fürchten, dass dieser haarrissige belgische Atommeiler bei Aachen noch kurz vor knapp kollabieren und Kretschmann ins Kanzleramt katapultieren könnte. Martin Schulz ist um jeden Tag froh, an dem Kim Jong Bumm nicht auf die Idee kommt, den Verzicht auf neues Feuerwerk mit dem EU-Beitritt der Türkei zu verknüpfen.

Die Grünen wiederum rechnen jeden Tag damit, dass BILD sie morgens mit der Schlagzeile „Jetzt wollen sie nur noch Veganer Diesel fahren lassen“ ans Wahlkreuz tackert. Und über allen zusammen schwebt die Angst, dass es der IS vor der Bundestagswahl noch mal irgendwo so richtig krachen lässt und der AfD damit einen Erdrutsch schenkt. Hätte Gevatter Gauland einen Wunsch frei, müsste er sicher nicht lange überlegen.

Da auch die heimliche Hoffnung zuletzt stirbt, hält die AfD nichts von Briefwahl. Die Partei der Harmonie unterstellt generell, dass Stimmen für das neue alte Deutschland in den Rathäusern aussortiert und in Anatolien entsorgt werden. Deshalb hat die Bewegung ihre Mitglieder auch aufgefordert, am 24. September in allen Wahllokalen präsent zu sein und Unregelmäßigkeiten unverzüglich an die zuständige (ja, warum es nicht einfach mal wieder ganz unverkrampft ausdrücken) Gauleitung und an die OSZE zu melden.

Das mit der OSZE ist übrigens kein Witz. Die AfD-Führung hat sich bereits bitterlich bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa über Mobbing beklagt und internationale Wahlbeobachter gefordert. Bei den eigenen Rechten sind Rechte eben sehr pingelig.

Auf ihrer Website hat die AfD extra einen Knigge für das richtige Benehmen im Wahllokal zusammengestellt. Sicher aus gutem Grund. Allerdings fehlen zwei wichtige Benimmregeln: Vor Betreten des Wahllokals Springerstiefel abtreten. Und Kreuze vorerst nur in X-Form.

 

© Satzverstand September 2017

 

 

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