(26.11.16) Wir haben heute einen Christbaum ausgesucht. Vier Wochen vor Weihnachten! Auch Geschenke habe ich schon eingekauft. Zum ersten Mal seit Männergedenken vor dem 20. Dezember! Ich denke, es liegt daran, dass ich nächstes Jahr 50 werde. Da wird Mann vorsichtiger im Umgang mit der Zeit. Deshalb mache ich auch keine Termine mehr über zwei Wochen hinaus. Und an der Kasse lasse ich keine Ommas mehr vor. Wer weiß denn, wie viel Zeit MIR noch bleibt.
So gesehen ist es auf den ersten Blick unlogisch, eine Tanne vor dem 24. Dezember zu kaufen. Doch so weiß ich wenigstens die Familie versorgt, sollte sich für mich das letzte Adventskalendertürchen nicht mehr öffnen.
Aber zurück zum Christbaumkauf. Obschon mein Vater mich in dem festen Glauben erzogen hat, dass der Direktbezug einer stattlichen Tanne aus dem westfälischen Nadelwald nach Einbruch der Dämmerung beichttechnisch zu vernachlässigen ist, haben meine Frau und ich uns auch in diesem Jahr instinktiv für den legalen Weg entschieden.
Denn nachdem das mit dem Klimawandel nun wohl doch nicht stimmt, die Evolution zumindest in den USA nicht stattgefunden hat und auch die Sache mit der Erde als Kugel noch mal neu bedacht wird, wollen wir nicht voreilig das Jüngste Gericht ausschließen.
Letztes Jahr haben wir ökologisch korrekt eine hochwertige Edeltanne aus lokalem Anbau in der Nachbarschaft erworben. Original-Ton Tannenbauer: „Die hält sich ewig. Meine Schwägerin hatte die bis Ostern stehen.“ Können Weihnachtsbaumverkäufer lügen? Ja. Der Baum hat bereits am zweiten Weihnachtfeiertag die Mauser eingeleitet. An Neujahr war er nackt. Wir haben uns für ihn geschämt und ihm Ostern erspart.
Aber es war unser Fehler. Das habe ich nach der Lektüre von Peter Wohllebens Bestseller Das geheime Leben der Bäume eingesehen. Tannen haben ja eine ganz andere Kultur als wir. Klar, dass so ein Baum abstoßend reagiert, wenn er von einem Tag auf den anderen in eine für ihn völlig fremde Welt eingestielt wird. Historisch besehen gehört die Fichte ja gar nicht zu Deutschland. Aber leider passt eine Eiche nicht in unser Wohnzimmer – zumindest nicht senkrecht.
Deshalb haben wir uns jetzt für einen Weihnachtsbaumbetrieb entschieden, der auf Basis der Anbahnung arbeitet: Familie und Baum lernen sich erst einmal vorsichtig kennen, verbringen viel Zeit miteinander in der Schonung und bauen gegenseitiges Vertrauen auf. Erst wenn der Tannhüter das sichere Gefühl hat, dass beide Seiten das Weihnachtsfest einvernehmlich überdauern können, darf der Baum zur Akklimatisierung zu uns nach Hause. Dort besucht sie der Tannenwirt noch ein, zwei Mal, bis er seinen Zögling mit einem feierlichen Einstielungsritus endgültig frei gibt.
Heute haben wir unsere Tanne zum ersten Mal kennengelernt. Wir hatten das Gefühl, wir gefallen ihr. Unser Sohn hat ihr ein Freundschaftbändchen um den Stamm geknüpft. Ich musste weinen. Meine Frau bleibt über Nacht in der Schonung. Im Morgengrauen löse ich sie ab. Da wir nicht die ganze Woche über bei ihr sein können, also bei der Tanne, haben wir in der Kiefer gegenüber eine Webcam installiert. Und wir skypen.
Mein Sohn hatte heute Abend eine gute Idee: „Lasst uns Weihnachten doch einfach bei IHR feiern“. Kein schlechter Vorschlag. Ich habe sowieso vergessen, wo ich im Januar den Christbaumständer hingetan habe – ich werde nächstes Jahr 50.
(© Satzverstand 2016)