Blaumilchkanal 2.0

(10.03.17)  Im Frühjahr 1976 habe ich im Alter von neun Jahren mein bisher bedeutendstes Tiefbauprojekt gestartet. An einer nicht ganz unprominenten Stelle in unserem Garten begann ich an einem Mittwochmittag mit dem Bau eines Loches. Wie bei vielen Großprojekten in Deutschland war das Ziel zunächst nicht eindeutig klar. Um 15 Uhr, bei einem Durchmesser von zwei Metern und 30 Zentimeter Tiefe, äußerten meine Eltern erstmals vorsichtig die Frage nach dem Plan.

Wer Ephraim Kishons wunderbares Hörspiel vom Blaumilchkanal  gehört oder den gleichnamigen Film gesehen hat, der weiß, dass sich bei Vorhaben von Weltrang Fragen nach dem Sinn generell verbieten. Aber ich weiß noch, dass sich während des Schaufelns meine eigenen Zielvorstellungen mehrfach änderten. Nach 40 Zentimeter Tiefgang war ich auf eine geologisch hochspannende, aber höchst spatenunfreundliche Mergelkieselschicht gestoßen. Schweren Herzens und mangels schweren Gerätes musste ich Plan A aufgeben, mich bis zur Lava ins Erdinnere vorzugraben.

blaumilchkanal_2.0_1Zwei Stunden nach Baubeginn schaltete ich also von Tief- auf Breitbau um. Einen Swimmingpool würden wir gut gebrauchen können. Wegen meiner kleinen Schwester durfte der auch nicht so tief sein. Um viertel nach Vier erschien mir ein Fischteich sinnvoller. Um halb Fünf war ich nach dem Fund eines Feuersteins davon überzeugt, auf ein steinzeitliches Neandertalerlager gestoßen zu sein. Die Baustelle wurde für den Zeitraum der archäologischen Sicherungsmaßnahmen und zugunsten einer „Ed von Schleck“-Eispause stillgelegt.

Um Fünf riss leider zeitgleich mit dem Erreichen eines Lochdurchmessers von vier Metern der Geduldsfaden meines Vaters. Eltern können sehr kurzsichtig sein.

Und Geschichte wiederholt sich. Vorgestern habe ich meinem Sohn verboten, in unserem Handtuchgrundstückgarten SEIN bisher bedeutendstes Tiefbauprojekt zu starten.

Gottseidank hat das Schicksal mein schlechtes Gewissen erlöst: Gestern tauchten in unserer Straße wie aus dem Nichts Männer in Orange auf. Exakt um 9.43 Uhr begannen Sie mit dem Bau eines Loches. Erst waren es zwei, eine Stunde später schon vier, gegen Elf schließlich glorreiche sieben und zwei Minibagger. Um halb eins kam unser Sohn aus der Schule, ließ sich kurz in den bisherigen Verlauf der Baumaßnahme einweisen und übernahm die Bauleitung (im Bild mit blauem Schirm).

„Die machen die Kanaldeckel neu“, hat er mir zwei Stunden später betont beiläufig berichtet. Das glaube ich ihm nicht. Ich bin sicher, dass er mit seinen neuen Freunden von der Lochbaustelle Größeres plant. Er hat sich schon den Spaten aus dem Gartenhaus geholt.

Und er hat heimlich mit meinem Tablet die Begriffe Baustelle BER und Elbphilharmonie gegoogelt. Es könnte natürlich auch eine solitäre U-Bahn-Station werden. Mir persönlich würde ein Baumilchkanal 2.0 am besten gefallen. Denn wir wohnen in der Tulpenstraße. Da passt ein Grachtensystem wie in Amsterdam perfekt. Wenn ich bloß wüsste, wo ich meinen Lochbauplan vom Frühjahr 1976 habe….

„In Köln gräbt man erst mal ein Loch und überlegt sich dann, was man damit macht“, spottet der Kabarettist Jürgen Becker. Ich finde, dass das ein ganz vernünftiges Vorgehen ist.

© Satzverstand 2017

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